Denken Sie zurück an das Jahr 1991 - kommt Ihnen dabei der Begriff Digitalisierung in den Sinn? Wenn Sie kein Este sind, lautet die Antwort vermutlich “nein”. In Tallinn jedoch sieht das anders aus: seit 1991 werden von dort aus Verwaltung, Behörden und Institutionen des Landes konsequent digitalisiert - vorangetrieben vornehmlich von jungen Männern zwischen 30 und 40, die seit der Unabhängigkeit Estlands von der damaligen Sowjetunion die grösste demographische Gruppe innerhalb der parlamentarischen Republik Estland bilden.

Bald 30 Jahre später gehört Tallinn aufgrund dieses frühen Einstiegs in die digitale Transformation zur unangefochtenen Smart-City-Spitze. Aus der Schweiz blickend, könnte man fast ein bisschen neidisch werden auf den baltischen Staat. 

Die Frage, wie aus der kleinen Nation an der Ostsee ein solcher digitaler Riese werden konnte, lässt sich aber u.a. mit dem historischen Reset im Zuge von Glasnost und Perestroika beantworten: Zum einen ist mit jedem politischen immer auch ein administrativer Neuanfang verbunden. Zum anderen ermöglichen zentralistische Verwaltungsstrukturen wie die Estlands im Gegensatz zu föderalen Demokratien wie der Schweiz rasantere Entwicklungen. 

So kommt es, dass Estland bereits seit 1999 komplett papierlos regiert wird und im Jahre 2000 jede Estin und jeder Este ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht auf Internetzugang hat. Mit diesem klaren Bekenntnis der Regierung zur Digitalisierung mussten sich auch alle staatlichen Dienstleistungen verändern: Voraussetzung dafür war jedoch zunächst die Schaffung einer sicheren Authentifikationsmethode im Netz. 

2002 gab die Regierung zu diesem Zweck neue, mit einem speziellen Chip versehene Identitätskarten heraus (hergestellt von der Schweizer Firma Trüb in Aarau). Diese IDs dienen als digitaler Identitätsnachweis und damit als Türöffner für Dienstleistungen und Behördengänge im Netz. 2007 wurden die Karten um eine digitale ID ergänzt, mit der jede BürgerIn des Landes identifiziert werden kann. 

Florian Hartleb, ein in Tallinn lebender Politikwissenschaftler, erforscht das estnische Digitalisierungsmodell bereits seit einigen Jahren. Selbst im verglichen mit der Schweiz weniger föderalen Deutschland sei “ein solches Programm schwer vorstellbar”, weil die politischen Mühlen langsamer mahlen. Zum Blick nach Estland rät Hartleb dennoch nachdrücklich: „Wir sollten uns anschauen: Was können wir auch bei uns vereinfachen und pragmatischer regeln, damit hoch qualifizierte, kreative Gründer nicht abwandern?“

So dauert hierzulande die Entwicklung zur digitalen Gesellschaft länger - mit einiger Wahrscheinlichkeit ist sie dafür jedoch auch sicherer bzw. nachhaltiger und eben: dem Volk nicht aufoktroyiert, sondern vom Volk abgesegnet. Mit der Unterzeichnung der von EU und EFTA gemeinsam erarbeiteten «Declaration on eGovernment» durch Bundesrat Ueli Maurer unterstrich die Schweiz am 6. Oktober 2017 in Tallinn die Wichtigkeit von E-Government im eigenen Land wie auch über die Landesgrenzen hinweg.

Unter anderem sollen Dienstleistungsprozesse der Verwaltung möglichst digital und für alle zur Verfügung stehen. Auch soll die Dateneingabe für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen zuverlässig und sicher sein und nur einmal getätigt werden müssen. Zudem wird angestrebt, dass die IT-Systeme national und international kompatibel sind.  

Anlässlich seiner Sitzung vom 27. Juni 2018 beauftragte der Bundesrat die Bundeskanzlei, eine Vernehmlassungsvorlage auszuarbeiten, so dass das E-Voting als dritter, ordentlicher Stimmkanal in der Schweiz etabliert werden kann. Die Kantone sollen jedoch auch künftig nicht verpflichtet werden, die elektronische Stimmabgabe einzuführen. Auch die Stimmberechtigten sollen die Wahlfreiheit behalten, ihre Stimme elektronisch, brieflich oder persönlich an der Urne abzugeben. 

Die elektronische Stimmabgabe in der Schweiz befindet sich aktuell noch im Versuchsbetrieb. In mittlerweile über 200 erfolgreichen Versuchen haben seit 2004 insgesamt 14 Kantone einem Teil ihrer Stimmberechtigten die elektronische Stimmabgabe ermöglicht. Zurzeit wird E-Voting in acht Kantonen angeboten, ab September 2018 wird zusätzlich der Kanton Thurgau Versuche wieder aufnehmen. 

Welche Kritik an Estlands elektronischem Wahlsystem geübt wird und mit welchen Folgen die Einführung der sogenannten e-Residency verbunden sind, die Estland 2015 einführte, um ausländische UnternehmensgründerInnen ins Land zu holen, lesen Sie in Teil 3 unseres Reiseberichts.