Mit 430’000 Einwohnern hat Tallinn ungefähr so viele Bewohner wie die Region Basel. Zwar ist Estland mit insgesamt nur 1,3 Millionen Bürgerinnen und Bürgern bedeutend kleiner als die Schweiz - was digitale Transformation angeht, besetzt die Hauptstadt Tallinn jedoch stets einen der vordersten Plätze weltweit: smarter als die kleine Metropole am finnischen Meerbusen sind nur wenige Orte - und das alles, ohne dass dort jemals eine Smart City Strategie verabschiedet worden wäre. 

Die Liste digitaler Errungenschaften Estlands ist lang: Fast alle Esten besitzen mittlerweile eine computerlesbare Identitätskarte, mit der das digitale Signieren auch offizieller Dokumente möglich ist. Seit 2005 ist es möglich, online zu wählen. 2015 machten rund 30% der Wahlberechtigten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die estnische Verwaltung selbst regiert vollständig papierlos - und das bereits seit 1999. 

2016 gaben 96% der Esten ihre Steuererklärung online ab, 98% aller Transaktionen werden digital getätigt. Eine Unternehmensgründung lässt sich online in weniger als einer halben Stunde erledigen, auch Jahresberichte, Grundbucheinträge, Registerauszüge lassen sich in Estland virtuell abrufen bzw. einreichen. Um den damit einhergehenden Herausforderungen gewachsen zu sein, hat sich der estnische Staat verpflichtet, alle sieben Jahre seine IT-Infrastruktur zu auszutauschen.

Seit dem Jahr 2000 garantiert die estnische Verfassung allen BürgerInnen Zugriff auf das Internet - egal wo im Land sie leben. Rund 99 Prozent des Landes sind mit einem kostenlosen Hot-Spot-Netz abgedeckt. Dies führt dazu, dass Estland über die meisten Internetanschlüsse pro Kopf weltweit verfügt. 

Für Technikfans und Zukunftsorientierte mag das, was in Estland bereits digitale Wirklichkeit ist, nach real existierendem Virtopia klingen - für manch eine DatenschützerIn ist es der digitalisierte Albtraum schlechthin: Die Digitalisierung macht vor kaum einem gesellschaftlichen Bereich in Estland Halt:

In einem virtuellen Patientenportal sind die Gesundheitsdaten der gesamten Bevölkerung vereint: von der Geburt bis zum Tod werden alle relevanten Daten wie Arztbesuche, Diagnosen, Röntgenbilder und verschriebene Medikamente gespeichert. Mit Erlaubnis der PatientInnen können MedizinerInnen und Krankenhäuser darauf zugreifen - die Anamnese wird erleichtert, zudem können Rezepte digital erstellt und von Apotheken abgerufen werden.

Prozessbeteiligte laufender Verfahren können online auf Gerichtsakten zugreifen, Programmieren zu lernen ist für alle SchülerInnen Pflicht, und mit der E-Residency können AusländerInnen zu virtuellen BürgerInnen Estlands werden und damit in den Genuss all dieser niederschwelligen digitalen Angebote kommen.

Wie kann es sein, dass dieser kleine Staat im Norden Europas so viel weiter ist im Bereich der Digitalisierung? Wie kommt es, dass sowohl die Kompetenzen als auch die Akzeptanz im Umgang mit der digitalisierten Verwaltung und den damit einhergehenden datenschutzrechtlichen Risiken in der Bevölkerung derart stark zu sein scheint? Die Antwort auf diese Frage liegt nicht zuletzt in der jüngeren Geschichte Estlands verborgen.