Obwohl Estland 2015 im EU-Vergleich bereits einen Spitzenplatz bezüglich der Dichte an Startups aufwies, führte das Land zur weiteren Unterstützung dieses Trends die sogenannte e-Residency ein.
Diese ermöglicht Nicht-Esten die Registrierung einer digitalen Identität und damit die Gründung von Firmen und den Zugriff auf die unternehmerfreundliche Infrastruktur Estlands. Geleitet wird das Projekt von Taavi Kotka, stellvertretender Kanzler der Kommunikations- und Informationssysteme des Wirtschaftsministeriums und einer der Gründer von Skype.
Konkret ermöglicht die e-Residency:
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das Erstellen von digitalen Signaturen
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das Verschlüsseln von Dokumenten
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die Benutzung des offiziellen Portals eesti.ee
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die Gründung von Unternehmen in Estland
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die Einreichung einer estnischen Steuererklärung online sowie
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die Erstellung von Bankkonten (nach einmaliger persönlicher Vorstellung bei einer Bank in Estland)
5000 Internetbürger, darunter Freelancer, Startups, Digitale Nomaden und KMUs, haben bereits ein Unternehmen im estnischen Handelsregister eingetragen. Die Unternehmensführung lässt sich komplett online abwickeln, der Zugang zum EU-Markt sowie zu EU-Fördertöpfen wird ermöglicht, ein ortsansässiger Director wird nicht benötigt. Signifikante Vorteile also, die am Tag des Launches des e-Residency-Programms rund 4000 Bewerbungen zur Folge hatten.
Allerdings hat das rasante Tempo und die kompromisslose Haltung, mit der Estland seine Digitalisierung vorantreibt, auch ihren Preis, vor allem im Bereich der Sicherheit. Einige estnische Banken weigern sich beispielsweise mittlerweile, Konten für ausländische Unternehmer zu eröffnen. Deren Überwachung sei zu aufwendig, das Betrugs- und Missbrauchsrisiko zu hoch. Manche Institute haben begonnen, bestehende Konten von Ausländern wieder aufzulösen.
Auch das elektronische Wahlsystem, mit dem die Esten seit 2007 online ihre Stimme abgeben können, gerät immer wieder in die Kritik. So empfahlen Wissenschaftler aus Michigan 2014 in einer Studie, die Nutzung der Online-Wahl in Estland einzustellen. „Wir glauben nicht, dass man das i-Voting-System heutzutage sicher ausgestalten kann“, heißt es.
In Tallinn hält man dagegen: Das System werde immer wieder überarbeitet, vor Wahlen lade man Leute ein, das System zu hacken, damit nichts passiere. Mit 99,9-prozentiger Sicherheit gebe es niemanden, der das System hacken könne, ein gelungener Angriff würde zudem sofort bemerkt, dafür trüge die Blockchain-Technologie Sorge.
Taavi Rõivas, bis 2016 estnischer Premierminister und einer der Initiatoren des e-Residency-Programms, prophezeite dereinst: „Die Länder, die neue Technologien besonders früh adaptieren, werden sich am schnellsten entwickeln“. Sie werden allerdings auch vor allen anderen an empfindlichen Stellen digital verwundbar.
Zwar werden laut Eigenauskunft der estnischen Regierung durch den Einsatz digitaler Technologien jährlich rund 800 Jahre Arbeitszeit in der Verwaltung eingespart - bei Weitem aber sind nicht alle Platinen aus Gold, mit denen das digitalisierte Estland im weltweiten Vergleich so verlockend glänzt. Eine Tatsache, die in der Schweiz noch so manch eine Digital-Initiative vor dem auf Diskretion bedachten Volk zum Scheitern bringen dürfte.